
LESEPROBE
Zirkuslichter - Kapitel 1
1. Kapitel
Emil
Auf dem Parkplatz wird gepöbelt. Mich erstaunt es nicht, dass Dale im Mittelpunkt des Geschehens steht und jemanden mit seinem Blick in der Luft zerreißt. Er zerrt sich die Lederjacke von den nackten Schultern und wirft sie auf die Rückbank seines Autos.
Ein Audi der neureichen Kids saust nur knapp an ihm vorbei, wofür Dale ihm gegen die Stoßstange tritt.
Bevor es eskaliert, gehe ich schneller auf ihn zu, während ich mir den Schweiß mit dem Shirt von den Wangen wische. Kaum erspäht er mich, stoppen seine Flüche und er zeigt auch nur noch einmal jemandem seinen Mittelfinger, ehe er sich mir zuwendet.
»Du riechst nach Popcorn.« Dale zieht sich das Muskeltop hoch, um sich Luft zuzuwedeln.
Amüsiert bleibe ich vor ihm stehen. »Nicht eher wie halbgare Fritten, die im Fett ertränkt wurden?«
»Ha ha.« Dale lehnt sich an sein Auto und sagt mit seinem leichten schwedischen Akzent: »Wie ein Einhornfurz.«
Nach meiner Schicht müsste ich erbärmlich stinken. Die Hitze im Restaurant ist irre, dann die dicken Kostüme, die wir tragen müssen und das schnelle hin- und herrennen. Ich habe fast im Schweiß gebadet, bevor ich endlich Feierabend machen konnte.
Ein paar Gäste verlassen das Restaurant, aus dem ich mich gerade verzogen habe und tuscheln, als sie mich mit meiner grünen Schürze auf dem Parkplatz stehen sehen.
Sie gehen zu ihren schicken Autos, Dale reckt ihnen angriffslustig den Kiefer entgegen, und ich senke schnell den Kopf, während ich unter meiner Schürze zu verschwinden versuche. Man, ist das alles peinlich.
Reifen quietschen auf heißem Asphalt und irgendjemand schreit uns ein Wort zu. Sie rasen mit ihren Luxusautos an uns vorbei, die nur eine stinkende Abgaswolke zurücklassen. Danach fahren sie dem Sonnenuntergang entgegen und ich bleibe hier zurück: im Zirkus, in einem Kaff, am Arsch der Welt.
Vor mir steht Dale, der seine zu Todessichelklingen gezupften Augenbrauen herunterzieht. »Wichser«, betitelt er sie allesamt. Ihm steht der Schweiß auf der Stirn, aber er macht sich nicht einmal die Mühe, die funkelnden Tropfen wegzuwischen. Oder doch. Er reibt sich über die feuchte Haut und das kurz geschorene Haar.
Dale wendet sich von den Rücklichtern der Autos ab und schenkt mir sein rasiermesserscharfes Grinsen. »Du riechst immer nach Popcorn.«
Wenn er wüsste, wie ich diesen Fakt hasse. Die Leute, die gerade in ihre Luxusschlitten gestiegen sind, riechen mit Sicherheit nicht so. Eher nach Champagner, einem teurem Eau de Toilette und Kaviar. Falls Kaviar einen Geruch haben sollte.
Dale schlägt auf das Dach seines Golf 2 und schwingt sich auf den Fahrersitz. »Worauf wartest du? Steig ein.«
Wo wollen wir denn hin? »Ich muss eigentlich zu Paps. Wir wollten die neuen Show-Attraktionen besprechen und welche sich am besten als Hauptakt anbieten. Im Moment haben wir ja das Glück, so viele verschiedene Künstler im Zirkus …«
»Bla, bla, bla.« Dale winkt ab und startet seine Karre. Es ruckelt, der Geruch von Benzin beleidigt meine Nase und die CD im Radio springt an: »Oh, Champs Élysées«, wird uns entgegen geschrien. Dale dreht lauter.
»Spring endlich rein. Wir holen uns Bier und Futter.«
»Ich darf noch kein Bier trinken. Ich bin siebzehn.«
»Siebzehn oder einundzwanzig. Du nippst doch sowieso nur dran und lässt es danach stehen. Also komm.«
»An öffentlichen Plätzen ist es auch verboten.«
»Ja, das juckt mich ja auch richtig.«
Außerdem: Sehe ich aus, als würde ich mein Geld dafür ausgeben wollen? Ich spare für ein besseres Leben, da will ich ungern Unsinn kaufen. Aber das würde Dale nicht verstehen. Ihm macht es ja nichts aus, immer pleite zu sein. Ich möchte hingegen nicht in einem Restaurant oder noch schlimmer: Beim Zirkus enden.
Ich denke, wohlhabende Leute haben diese Probleme nicht. Sie werden nicht in der Schule gemoppt oder belächelt; sie haben viele Freunde und werden zu allen Partys eingeladen, während ich wie ein Aussätziger behandelt werde. Manchmal denke ich, es liegt am Zirkus, einen anderen genauso quälenden Gedanken versuche ich sofort zu unterdrücken: Wenn meine Eltern mich schon nicht lieben konnten und mich weggegeben haben – vielleicht liegt es einfach an mir? Vielleicht bin ich defekt?
Hastig schüttele ich die Gefühle ab, die sich wie Eisnadeln in mein Herz stechen.
Irgendwann werde ich reich sein. Irgendwann. »Wie du weißt, hab' ich nicht viel Geld.«
Dale leckt sich über die Oberlippe und betrachtet sich im Seitenspiegel, ehe er sich erneut über das Haar streicht. »Hat auch keiner gesagt, dass du zahlen sollst.«
Aber eingeladen werden ist auch …
»Steig ein!« Mit einem lauten Knall landet seine Hand auf dem schwarzen Blech der Tür. »Emil, ich pack dich gleich am Nacken und schließe dich im Kofferraum ein.«
Das Problem mit Dale ist, dass er zwar gerne großkotzig redet, aber gewisse Dinge dennoch ernst meint.
Bei der Erinnerung, wie Sonni den kompletten Rückweg im Kofferraum verbracht hat, gebe ich mich schlussendlich geschlagen. Seufzend gehe ich um die Schrottkarre herum und ignoriere für einen Moment das laute Knattern des Motors.
Ich hebe den Blick und die letzten Rottöne des Sonnenuntergangs verschwinden bald. Die ersten Sterne funkeln und versprechen mit der kühlen Brise eine angenehme Sommernacht.
»Devereux!« Das Auto wackelt, so schwungvoll hat Dale die Tür aufgeschlagen, bevor er sich am Dach rausgezogen hat. Das Top rutscht hoch, was seinen muskulösen Armen noch mehr Eindruck verleiht. »Krieg den Arsch in die Karre.« Er stampft auf mich zu, reißt die Tür auf und schiebt mich auf meinen Platz.
»Ja, mein Gott. Dixon! Ja, verdammt, ist ja in Ordnung.« Schließlich lasse ich mich fallen und schnalle mich an.
Dale läuft um das Auto zurück, wirft mir noch einen strengen Blick zu, ehe er den Kopf schüttelt und sich die Hand in den Nacken legt.
Im letzten Licht der Sonne sieht Dale aus wie ein Schattengeschöpf: Die blasse Haut, die nun golden leuchtet, im Kontrast zu den schwarzen Haaren und den hellblauen Augen. Auf seinen Armen schlängeln sich Tattoos hoch, bis über seinen ganzen Rücken. Manchmal erlaubt er einem Bekannten, ihm Neue dazu zu malen, die er sich dann spontan stechen lässt. Dementsprechend durcheinander sind der Style und die Art seiner Tattoos.
Eine Rose auf dem Handballen, Raben an den Unterarmen und Sterne, Kreise, Runen, Planeten und gefühlt das ganze Universum prangt auf seinen Oberarmen und dem Brustkorb.
»Bist du bereit?« Dale setzt sich endlich und rammt den Schaltknüppel in den Rückwärtsgang rein.
»Bin ich.«
»Das will ich hoffen, wir haben einen Ausflug vor.«
Meine Augenbraue springt nach oben. »Was war das mit dem Bierchen?«
»Hab' nicht gesagt, das wäre nicht mehr dabei.«
Seine Hand landet hinter mir an der Kopflehne, während er sich umdreht, und mir den Duft von Bergkiefer und Schweiß entgegenwirft. Sein natürlicher Duft eben. »Die Schickimicki-Parkplätze sind immer viel zu winzig für die ganzen scheiß Protzkarren. Und dann die Cabrios, die parken, als wären sie ein Geländewagen. Zum Kotzen.«
Langsam parkt er rückwärts aus und fährt auf die nächste Straße.
»Hm.« Ich nicke, aber ich höre nicht zu, wenn er sich wieder über die Reichen aufregt. Dale ist eben anders als ich. Was ich erstrebenswert finde: Reichtum, Macht und Ruhm – ist für ihn verachtenswert.
Vielleicht, weil er es als Kind einmal besessen hat? Aber danach fragen kann ich nicht. Genau wie ich, ist Dale ziemlich früh ins Kinderheim abgeschoben worden. Seitdem erwähnt er nur fetzenhaft etwas über seine Mom, hält inne und erstickt das bisschen Sehnsucht in seiner Stimme mit Flüchen, die jedes Mal eine überraschende Meisterleistung an Wortspielen sind. Demnach ist es ein Thema, das nicht angesprochen wird.
»Wie kommt es zu dem spontanen Ausflug?«, frage ich, um mich auf andere Gedanken zu bringen.
Dale fährt über eine Landstraße, an Dörfern und Wäldern vorbei und nicht einmal die Straßenlaternen können uns Licht schenken, wir sind einfach viel zu schnell. Da sind nur die Kegel der Scheinwerferlichter und die blinkenden Sterne am Himmel.
Manchmal frage ich mich, ob es in Dales Innenleben ähnlich aussieht. Nur Finsternis und ein Hauch von Licht, das sich durch die Dunkelheit kämpft.
Kurz zuckt Dale mit einer Schulter. »Kein Bock auf das Gelaber von deinem Alten.«
»Unserem Alten.« Schließlich hat der Zirkusdirektor uns drei zu sich geholt. Dale, Sonni und mich. Zwar nur um in seinem Zirkus auszuhelfen und weniger aus väterlichen Gefühlen – ab fünfzehn dürfen wir eben arbeiten – aber das ist dennoch mehr Familie, als ich jemals hatte. Und offiziell hat er mich sogar adoptiert.
»Pah. Der Mistkerl… So jemanden brauche ich in meiner Familie nicht.«
»Immerhin kannst du dich an deine Familie erinnern!«, will ich schreien, ihm meine geballte Ladung Gefühle gegen den Kopf knallen, nur was würde das bringen? Wahrscheinlich würde er dadurch an die Decke gehen und wir würden uns den Rest der Nacht anschweigen.
»Dale …« Ich versuche, ihn mit ruhiger Stimme zu beschwichtigen, aber er drückt den Fuß aufs Gaspedal und rammt die Kupplung in den fünften Gang. Bei der Geschwindigkeit rebelliert mein Bauch.
»Fahr langsamer! Verdammt, kannst du deine Gefühle auch wie ein Normalsterblicher ausdrücken?«
»Ich will nur schneller da sein«, sagt er, aber ich sehe den dunklen Schatten, der sich über seine Augen gelegt hat.
»Dale! Jetzt hör auf damit!« Am liebsten würde ich ihm ins Lenkrad greifen, doch bei der Geschwindigkeit ist das keine gute Idee. »Was ist denn los mit dir? Ist irgendetwas passiert? Geht es um Sonni?«
Verächtlich schnalzt er mit der Zunge. »Sonni. Dieser Vollidiot.«
Aha! Da drückt der Schuh also.
Dale legt die Stirn in Falten und seine Finger tippen leicht auf dem Schaltknüppel herum. »Er sagt …« Wie in Zeitlupe leckt er sich über die Lippen, zuckt mit den Schultern und lehnt einen Arm in das offene Fenster, nur um sich über das Gesicht zu streichen. Die Hand bleibt auf seinem Mund liegen, wodurch ich ihn kaum verstehe.
»Wie bitte?«
»Sonni hat eine Freundin.«
»Eine was?« Wo kommt die denn plötzlich her?
»Ja«, bestätigt er und setzt den Blinker. Er bremst viel zu schnell und der Sicherheitsgurt schneidet mir in den Hals. Ich kralle mich mit beiden Händen dran fest, da geht es auch schon um die Kurve.
Das Auto röchelt erbärmlich und fleht mich um Erlösung an. Ich wünschte, ich könnte ihm den Gefallen tun, Dales Eigentum zu sein, ist mit Sicherheit nicht leicht. Wenn ich mir vorstelle, er könnte irgendwann eine Freundin haben und sie derart liebevoll behandeln, wird das bestimmt anstrengend für alle Beteiligten.
»Keine Ahnung, wo er die aufgegabelt hat«, sagt er und ich erkenne, wie er sich ein paar böse Worte verkneift. »Das ist eine Schickimickitante aus dem Internat.«
»Oh.« Da liegt das Problem. Sie ist reich. Etwas, das Dale schon beim Aussprechen Übelkeit bereitet.
»Die will doch nur Spaß mit ihm! Wie könnte sich so eine Tussi jemals wirklich für jemanden wie uns interessieren? Ich schwöre dir, wäre sie kein Mädchen, ich hätte sie mir vorgeknöpft. Wobei … Vielleicht hat sie einen Bruder, der die Nachricht gut verstehen und an sie weitergeben kann.« Murmelnd reibt er sich über das Kinn, während er mit einer Hand das Lenkrad dreht.
In der Ferne wird ein Kuhkaff sichtbar, das unter den vielen Straßenlampen wie ein Alienschiff aussieht.
»Dale Dixon!« Ich balle die Hände zu Fäusten. »Du wirst dich nicht in die Beziehung deines Bruders einmischen.«
»Ist nicht mein …« Dale hält inne, reibt sich erneut über die Bartstoppeln an seinem Kinn und nickt nachdenklich. Zwar sind wir alle nicht blutsverwandt, aber Dale liebt Sonni wie einen Bruder. Daher schweigt er den Rest der Autofahrt.
Ich hole tief Luft und der Knoten in meinem Magen löst sich allmählich. Den Kopf lehne ich zurück und betrachte die alten Kachel- und Reihenhäuser, an denen wir vorbeifahren.
Das Auto ruckelt angenehm und meine Augenlider werden schwer. Es wäre jetzt zu schön, im Bett zu liegen und noch etwas Schlaf zu bekommen, bevor das Theater morgen wieder losgeht.
»Aber sie ist so reich«, flüstert Dale, als wäre es ein eigenes Schimpfwort. Sie und reich? Dale muss jemanden teilen? Und dann noch mit jemandem aus gutem Hause? Sein schlimmster Alptraum wird wahr.
»Es ist bestimmt nur eine Sommerliebe. Aber, wenn du magst, kann ich mich mal umhören?«
Er nickt. »Danke … Trotzdem bin ich froh, wenn wir bald wieder woanders sind. Das Kaff und die Leute hier sind zum Kotzen. Warum können wir nicht schon morgen mit dem Zirkus abhauen und neue Städte sehen? Warum hängen wir hier drei Monate fest?«
»Ich mag es hier.« Vor allem, weil ich müde davon bin, alle paar Monate aufzubrechen und weiterzufahren – rastlos zu sein.
Weiter gehts' in 'Zirkuslichter'